Manche fühlen sich wie in einem gallischen Dorf
Esslingen: Sirnau ist der kleinste und aus Sicht vieler Einwohnerinnen und Einwohner der schönste Stadtteil.

Von Simone Weiß
Quelle: Artikel vom 12.05.2021 © Eßlinger Zeitung (esslinger-zeitung.de/spaziergang)

Amselweg, Drosselweg, Finkenweg, Starenweg. Alle Vögel sind schon da. Zumindest in den Straßennamen von Sirnau, die alle nach Vogelarten benannt sind. Doch halt, schränkt der Hobby-Historiker Karl Langpeter, der sich im Stadtteil bestens auskennt, sofort ein: Eine Ausnahme gibt es – den Alemannenweg. Dort wurden 1937 etwa 230 alemannische Grabstellen entdeckt, und aus diesem historischen Anlass wurde das bei der Namensgebung sonst beharrlich verfolgte Vogelprinzip durchbrochen.
Doch eine Grabesruhe liegt nicht über dem Esslinger Stadtteil. Die Bewohnerinnen und Bewohner sorgen für eine lebendige Ortskultur. "Trotz unseres Engagements hat Corona vieles zum Erliegen gebracht", bedauert Alexander Möncher, der Vorsitzende des Bürgerausschusses, und zeigt auf den Maibaum beim Siedlerheim in der Ortsmitte. Er liegt quer auf dem Boden. Eigentlich hätte der lange Lulatsch Anfang Mai aufgerichtet werden sollen – zum 25. Mal. Doch wegen Corona wurde alles gecancelt.
Auch die närrischen Aktivitäten sind ausgefallen. Die Waldhäusles-Hexen und die Goißwoid-Hexa sorgen in Nicht-Pandemie-Zeiten für fastnächtliche Umtriebe. Aber eines konnte Corona nicht kleinkriegen. Ein eindringlicher Duft schwebt durch die Straßen: "Bärlauch", erklärt Alexander Möncher. Die Kräuterpflanze wächst in rauen Mengen in den Wald- und Randgebieten des Berkheimer Waldes, wird eifrig von Bürgern gepflückt und auch auf Wochenmärkten verkauft.

Der Bau einer Müllverbrennungsanlage scheiterte in den 1990er-Jahren am Widerstand der Einwohner.

Doch auch der Geruch von Widerstand und Aufmüpfigkeit liegt in Sirnau in der Luft. Früher zumindest, wie Karl Langpeter betont. Er vergleicht den Stadtteil mit dem gallischen Dorf der unbeugsamen Gallier um Asterix und Obelix, die die Römer regelmäßig das Fürchten lehren. Einen Zaubertrank gibt es zwar nicht, aber gewehrt hat man sich häufiger. In den 1990er-Jahren, so Karl Langpeter, wollte die Stadt Esslingen eine riesige, 600 Quadratmeter große Baracke zur Unterbringung von Spätaussiedlern im Finkenweg aufstellen: "Das hätte hier am Ortseingang dem Ortsbild geschadet." Nach Bürgerprotesten wurden zwei Wohnhäuser gebaut. Auch eine Müllverbrennungsanlage im Industriegebiet Sirnau wurde durch den Widerstand von Initiativen und der Einwohner verhindert. Und als Sirnau 1970 in ein Industriegebiet verwandelt werden sollte, gingen die Einwohner auf die Barrikaden - mit Erfolg. Sirnau mit seinen etwa 830 Einwohnern sei eben eine kleine, verschworene Gemeinschaft, meint Alexander Möncher. Es ist wohl auch die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte, die den Ort zusammenschweißt: Sirnau wurde 1932 als Mustersiedlung für Erwerbslose gegründet. Arbeitslose konnten sich hier um Grundstücke und Häuser bewerben. Sie mussten 500 Arbeitsstunden ableisten oder 500 Reichsmark bar bezahlen. Noch heute werden die meisten Grundstücke in Erbpacht gehalten, weiß Karl Langpeter.
Doch Sirnau hat sich weiter herausgeputzt. Der Spielplatz bei der Gaststätte Siedlerheim ist ein gelungenes Beispiel für die Angebote für junge Familien. Die Erhöhung, auf der der Spielplatz errichtet wurde, lässt sich leicht erklären – darunter befindet sich ein ehemaliger Bunker. Hier im Ortszentrum könne man die Weiterentwicklung des kleinen Stadtteils am besten ersehen, erklärt Karl Langpeter. Die evangelische Kirche erhielt in einem Anbau ein Gemeindehaus. Nach dem Siedlerheim führt der Weg zum Sportheim mit seinem Saal für Veranstaltungen, und danach schließen sich die beiden Sportplätze der SG Eintracht Sirnau an. Karl Langpeter weist in diesem Zusammenhang auf die Verdienste des verstorbenen Josef Neubauer hin, ohne dessen Engagement viele Projekte und Baumaßnahmen nicht möglich gewesen wären. Neben den Sportplätzen befindet sich das Gemeindehaus der Religionsgemeinschaft "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage". In der Nähe sind der Kindergarten und das mit viel Eigenleistungen erstellte Feuerwehrhaus. Gleich an dem Fußweg, der den ganzen Stadtteil quert, sticht ein Haus mit bayerischem Flair, blau-weißen Rauten und blau-weißen Fahnenmasten ins Auge. Es gehört einem lokalen Original Wilfried Lips, genannt der "Enzian-Sepp". Er hält inmitten der schwäbischen Siedlung bayerische Traditionen hoch.
Doch der Bürgerausschuss möchte auch die Weichen für die Zukunft stellen. Einen Haufen Probleme machen unerwünschte Hundehäufchen. Es müsse danach geschaut werden, erklärt Alexander Möncher, dass wieder genügend Beutel für Hundekot in Sirnau bereit stehen.

Trotz der Lärmschutzwand sorgt die angrenzende Bundesstraße 10 für einen gewissen Geräuschpegel.

Und auch ein weiteres Problem wartet auf Erleuchtung: Im Spechtweg zur Dieter-Roser-Brücke sollten wieder Straßenlaternen leuchten. Die Pfosten ohne Lampen dafür stehen immer noch bereit.
Karl Langpeter verweist auf weitere "tierische" Aspekte in dem Stadtteil. Nicht nur durch die nach Vögeln benannten Straßennamen, sondern auch durch das Tierheim und den Tierpark Nymphaea. Zur Neckarinsel, dem Standort der beiden Einrichtungen,  gelangt  man  durch  eine  Unterführung. Die Wände wurden einst von Künstlern professionell verschönt - doch mittlerweile haben Laien die meisten Kunstwerke mit ihren Kunstversuchen übersprüht, erzählen beide mit einem  leisen Bedauern.
Doch nicht immer ist Sirnau ein Stadtteil der leisen Töne, denn die angrenzende B10 sorgt für einen gewissen Geräuschpegel. Der wird aber gedämpft. 1981 wurde die erste Lärmschutzwand an der viel befahrenen  Straße  errichtet,  erklärt  Karl Langpeter,  2009  wurde  sie  erneuert  und verbessert. Kein Lärm, sondern harmonische  Melodien  erklingen  sonst  sonntags aus  der  katholischen  St.  Michaelskirche am  Ortsrand  in  Richtung  Göppingen. Denn hier gestaltet in Nicht-Corona-Zeiten  eine  afrikanische  Kirchengemeinde ihre Gottesdienste. Sirnau ist  eben ein  Ort mit  vielen  Facetten  und  der  kleinste  der Esslinger Stadtteile. Und Alexander Möncher ergänzt: "Und für uns Bewohner ist er auch der schönste."


Steckbrief Sirnau

Lage im Südosten des Stadtgebietes
Einwohner etwa 830 Personen
Geschichte Nachdem Esslingen Sirnau 1929 von Deizisau erworben hatte, beschloss der Gemeinderat 1931 dort den Bau einer "Randsiedlung für Esslinger Erwerbslose". Bei den Bauarbeiten stießen die Arbeiter auf frühgeschichtliche Gräberfelder und Gräber einer früheren Besiedelung. Die ersten Häuser und Grundstücke  wurden nach ihrer Fertigstellung verlost. Der Stadtteil wurde bis 1937 und von 1949 bis 1952 erweitert, im gleichen Jahr wurde die Bundesstraße 10 fertiggestellt, die direkt an Sirnau vorbei führt.
Bürgerausschuss Das Gremium setzt sich für den "Erhalt und die Verbesserung der Wohnsituation und Lebensqualität im Stadtteil sowie den Erhalt und die Förderung eines intakten Gemeinwesens" ein. Weitere Themen sind die Reduzierung des Straßenverkehrs, der Erhalt der wenigen Freiflächen und ein attraktiver ÖPNV.  Eine Kontaktaufnahme ist unter info @ esslingen-sirnau.de möglich.
Informationen Mehr zum Stadtteil Sirnau steht unter esslingen-sirnau.de . Hier kann auch ein Newsletter abonniert werden.

 

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