Eigenheime in Eigenregie
Esslingen: Die Geburt von Sirnau – Häuslebauer führten 1932 Gutes im Schilde

Von Simone Weiß
Quelle: Artikel vom 08.06.2020 © Eßlinger Zeitung

Ein cleverer Plan. Arbeitslose bauen ihr Eigenheim in Eigenregie und versorgen sich dort durch einen Gemüsegarten und eine Kleintierzucht selbst. Klingt nach einer modernen autonom-alternativen Wohnidee. Doch das Konzept stammt aus dem vorigen Jahrhundert: Die „Stadtrandsiedlung Sirnau“ ist 1932 auf der Basis dieses Gedankenmodells entstanden. Sie war ein Politikum – umstritten, heiß diskutiert, neugierig beäugt, kritisch beobachtet. Wegen dieses großen öffentlichen Interesses wurde die Bevölkerung zu Besichtigungsterminen in die Mustersiedlung eingeladen – und das imposante Ausstellungsschild ist als Objekt des Monats im „Gelben Haus“ in Esslingen zu sehen.
Wenige Worte. Orangefarbene Umrahmung. Blaue Schrift auf weißem Grund: „Ausstellung – Stadtrandsiedlung Sirnau vom 1. Juli bis 15. Juli 1932“. Doch wer genauer hinschaut, der bemerkt sofort: An der Zahl Fünf auf dem Einladungsschild wurde herumgefummelt, ursprünglich stand dort eine Drei. Klares Zeichen dafür, dass die Ausstellung ein Publikumsmagnet war und wegen des großen Besucherandrangs um zwei Tage, vom 13. auf den 15. Juli 1932, verlängert wurde. Kein Wunder. Es gab ja viel zu sehen, und schon allein die Entstehungsgeschichte der Siedlung hatte Modellcharakter.

Aufruf in der Eßlinger Zeitung
Die Stadt Esslingen zählte damals etwa 8000 Erwerbslose, die Wohnungsnot war immens, viele Bürger litten Not. Daher beschlossen Gemeinderat und Stadtverwaltung unter dem damaligen Oberbürgermeister Ingo Lang von Langen die Errichtung einer Stadtrandsiedlung: „Am 2. Dezember 1931 erschien eine Bekanntmachung in der Esslinger Zeitung, in der Interessenten dazu aufgefordert wurden, sich bis zum 15. Dezember zu melden“, teilt Julia Opitz vom städtischen Kulturamt mit. 56 Bewerbungen gingen ein, unter vier angedachten Standorten wurden die Sirnauer Wiesen ausgewählt, die Rahmenbedingungen wurden festgezurrt. Eine Siedlerstelle sollte mindestens 600 Quadratmeter Land umfassen, die Kosten durften 3000 Reichsmark pro Gebäude nicht überschreiten, die Siedler hatten mindestens 500 Arbeitsstunden zu leisten, und die Häuser wurden im Holzfachwerkbau nach Plänen des Esslinger Architekten Otto Junge gebaut. Holz, Werkzeug und Arbeitskleidung stellte die Stadt vergünstigt zur Verfügung.
Die Mustersiedlung konnte starten. Erster Spatenstich war im Februar 1932, im Juli 1932 waren bereits 24 Häuser fertiggestellt, später kamen 26 weitere Siedlerstellen dazu – und die Bevölkerung schaute neugierig zu. Wegen dieses großen öffentlichen Interesses wurden einige Häuser beispielhaft hergerichtet und die Esslinger zur Besichtigung eingeladen. 20 Pfennig kostete der Eintritt, etwa 6500 Interessierte kamen. Das drei Meter lange und knapp ein Meter hohe Hinweisschild hing über dem Eingang zur Ausstellung und wäre fast für immer verloren gewesen. Nur einem aufmerksamen Bauherren ist es zu verdanken, dass es im „Gelben Haus“ gezeigt werden kann. Denn es kam erst Jahrzehnte nach seiner Nutzung bei Abbruch- und Renovierungsarbeiten 2013 wieder zum Vorschein. In einem Dielenboden verbaut, landete es zunächst beim übrigen Bauschutt: „Dem Bauherrn fiel jedoch die Beschriftung auf, und er setzte das Schild wieder zusammen. Somit fand er ein Objekt, das die Entstehungsgeschichte des jüngsten Stadtteils Esslingens dokumentiert“, erklärt Julia Opitz.

Wirtschaftskrise schlug hart zu
Ein Stück Stadtgeschichte. Aber auch ein Stück Weltgeschichte. Denn der Flächenbrand des Zweiten Weltkriegs kündigte sich  durch viele kleinere Schwelbrände an. Der „Schwarze Freitag“ am 25. Oktober 1929 in den USA führte zu einer globalen Wirtschaftskrise: „Sie traf Deutschland besonders hart, da man hier in den 1920er Jahren wirtschaftlich von amerikanischen Krediten abhängig war.“ Die Folgen: Zusammenbruch der Produktion, Arbeitslosenzahlen von mehr als sechs Millionen Anfang 1933, Armut, Not, Obdachlosigkeit.
Der ohnehin nie sehr lebensfähigen Weimarer Republik ging endgültig der Atem aus: 1930 zerbrach die letzte demokratisch gewählte Regierung, bei den Reichstagswahlen wurde die NSDAP zweitstärkste Partei. Und der Reichspräsident, der greise Paul von Hindenburg, erließ am 6. Oktober 1931 die „Verordnung zur vorstädtischen Kleinsiedlung und Bereitstellung von Kleingärten für Erwerbslose“. Damit sollte die größte Not gelindert werden. Die Idee: Arbeitslose erhielten niedrig verzinste Darlehen, um ein Eigenheim in Eigenregie errichten zu können, und durch Gartenbewirtschaftung und Kleintierhaltung sollten sie zu Selbstversorgern werden. Ein Plan, der mit der Stadtrandsiedlung Sirnau in Esslingen umgesetzt wurde.  Eine moderne, eine zeitlose Idee, die auf viel Resonanz stieß.

Unter dem Titel „Historische Schätze“ stellt die Eßlinger Zeitung Objekte und Neuerwerbungen der Städtischen Museen Esslingen oder auch Schenkungen an die Ausstellungshäuser vor. Zudem werden Schätze aus dem Fundus des Stadtarchivs und des Esslinger Geschichts- und Altertumsvereins präsentiert. Die Objekte sind vom ersten Dienstag des Monats an im Gelben Haus am Hafenmarkt zu sehen.

 

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