Glückselige Stunden auf der Vorstadtbühne
Jedes Jahr zur Sommerzeit machen Stadtbücherei und Eßlinger Zeitung ungewöhnliche, überraschende und unbekannte Plätzchen zu "Erlesenen Orten". Diesmal gastierte der Schauspieler Gerhard Polacek im Sirnauer Garten von Daniela und Andreas Kirchner.
Von Alexander Maier
Quelle: Artikel vom 03.09.2022 © Eßlinger Zeitung
Tagtäglich fahren viele auf der Schnellstraße am Esslinger Stadtteil Sirnau vorüber – nicht ahnend, welche Idylle sich hinter der nüchternen Lärmschutzwand verbirgt: schmucke Häuschen, gepflegte Gärten, viel Grün und meist eine wohltuende Ruhe. Selten verirren sich Außenstehende in eine der schmalen Straßen, die Namen aus dem Musterbuch der Vogelkunde tragen. Einen Abend lang hat die sommerliche Reihe "Erlesene Orte" von Stadtbücherei und Eßlinger Zeitung den Garten von Daniela und Andreas Kirchner im Bussardweg in eine Vorstadtbühne verwandelt. Wie immer hat der Schauspieler Gerhard Polacek ein passendes literarisches Programm zusammengestellt. Und weil sich Andreas Kirchner als schwäbischer Sänger Buddy Bosch einen Namen gemacht hat, gab's zum literarischen auch einen musikalischen Genuss.
Logenplatz unterm Rosenbogen.
Wie viele Sirnauer haben auch die Kirchners ihr Gärtle hinterm Haus liebevoll gehegt und gepflegt – vor allem das Rosenbeet mit dem Bänkle unterm Rosenbogen. Dort machten es sich zwei Damen nach einem kleinen Spaziergang durch den Stadtteil sogleich bequem, während sich die übrigen Gäste auf Klapphockern rund um die Sonnenterrasse scharten, die ausnahmsweise zur Vorstadtbühne wurde. Wie es sich für einen guten Gastgeber gehört, hieß der Hausherr das Publikum erst mal willkommen – natürlich musikalisch. Wenn er als Buddy Bosch alleine oder im Duo mit Ehefrau "Ela" auf der Bühne steht, erweist sich Andreas Kirchner als glänzender Entertainer. Und so hatte er das Publikum der "Erlesenen Orte" rasch für sich eingenommen – ganz egal, ob er eigene Songs oder Wolle Kriwaneks "Ufo" zum Besten gab.
Weil er die überraschenden Auftritte mag, platzte Gerhard Polacek – mit Buddy Bosch natürlich genau abgestimmt – mitten ins musikalische Vergnügen, um das Publikum zum Perspektivwechsel hin zur Literatur zu verführen. Ursprünglich wollte der Schauspieler Texte zu Vorstadtidyllen präsentieren, doch als er die Sonnenterrasse in Kirchners Garten sah, war ihm sofort klar: "Das ist wie eine kleine Vorstadtbühne." So drehte sich an diesem Abend alles ums Theater – und um die Arbeit hinter den Kulissen, die dem Publikum verborgen bleibt.
"Wir lieben unser Gärtle, aber mit den 'Erlesenen Orten' haben auch wir unser kleines Paradies ganz neu erlebt"
Daniela Kirchner
Gastgeberin
Wenn die Welt stillsteht.
Mit Anton Cechovs literarischen Reflexionen "Über die Schädlichkeit des Tabaks" hatte Polacek einen seiner Lieblingstexte mitgebracht, der die dramaturgische Klammer für den Abend lieferte: Gewandet in schwarzem Anzug und Melone, rezitierte der Schauspieler munter drauflos – bis ihn vermeintlich der Albtraum eines jeden Künstlers einholte: ein Hänger! Plötzlich ist der Text weg, die Worte wollen einem partout nicht mehr einfallen, und während man gedanklich tausend Tode stirbt, verfolgen unzählige Augen aus dem Publikum die wachsende Nervosität. Wie jeder Künstler kennt Polacek solche Momente nicht nur vom Hörensagen. Deshalb hat er einen Text geschrieben, der spüren ließ, was dann in einem Künstler vorgeht: "Der Hänger – oder wenn die Welt stillsteht." Wie gut, wenn es in solchen Augenblicken einen Souffleur gibt, der aus dem Theatergraben oder hinter dem Vorhang die fehlenden Worte zuraunt. "Souffleure haben mit die wichtigsten Aufgaben im Theater", findet Gerhard Polacek. Doch was passiert, wenn sich der Souffleur seiner Bedeutung bewusst ist und meint, es besser zu können als die Darsteller auf der Bühne? Davon erzählt André Heller in seinem Text "Der Souffleur", den Polacek ebenfalls ausgegraben hatte.
Weil Gerhard Polacek als gebürtiger Österreicher eine besondere Affinität zum Wiener Schmäh hat, durfte Helmut Qualtinger im Programm nicht fehlen. "Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben" erzählt von zwei abgehalfterten Provinz-Mimen, die ein Leben lang von einer großen Karriere geträumt hatten, um auf ihre alten Tage nur noch in verklärten Erinnerungen zu schwelgen und sich gegenseitig die Bedeutung vorzugaukeln, die sie in Wahrheit nie hatten. Und nach Horst Peiskers Text "Auswurf" wagte sich Gerhard Polacek als Hommage an seine Gastgeber erstmals sogar auf schwäbisches Terrain und überraschte sein Publikum mit Thaddäus Trolls "Immer der Nase nach" und Ingrid Geigers "Was isch an Schwob", die er bemerkenswert mundartsicher vortrug.
Immer wieder überraschend.
Auch das gehört zum Konzept der sommerlichen Reihe: Jede Lesung ist einmalig, neu und voller unvorhergesehener Momente – auch für die Gastgeber: "Wir lieben unser Gärtle, aber mit den 'Erlesenen Orten' haben auch wir unser kleines Paradies ganz neu erlebt", befand Daniela Kirchner. Weil auch das Publikum vor Überraschungen nie sicher ist, blieb diesmal sogar der Veranstaltungsort bis zuletzt geheim. Zur Begrüßung gab's eine Brotzeit, am Ende verabschiedete Buddy Bosch die Gäste mit einem seiner schönsten Songs: "Ällweil lauft mr d'Zeit drvo." Stimmungsvoller hätte man diesen Abend nicht beenden können. Und manche dachten auf dem Heimweg: Glückselige Momente wie diese sollte man sich viel häufiger gönnen.
Die Akteure
Gerhard Polacek Er hat 1954 in Vorarlberg das Licht der Welt erblickt und nach einer ernüchternden Zeit als Banker begonnen, in Wien Theater zu studieren und als Nachtwächter und Billeteur die Menschen zu erforschen. Er war Regieassistent am Schauspielhaus Wien, ehe er 1985 der Liebe wegen nach Esslingen kam. Am Tübinger Zimmertheater hat er seine Leidenschaft für die Schauspielerei entdeckt. Heute arbeitet Polacek als freier Regisseur und freischaffender Theater-, Film- und Fernsehschauspieler, unter anderem an Bühnen in Stuttgart und der WLB.
Buddy Bosch "Musik ist die universellste Sprache der Welt" findet der 51-jährige Musiker und Produzent. Seit mehr als 30 Jahren bringt Buddy Bosch unterschiedlichste Genres in verschiedenen Formationen auf die Bühne. Emotionen auf schwäbisch hör- und spürbar zu machen, ist seine Passion. Im Soloprogramm "Von ällem ebbes ..." präsentiert Bosch am 29. Oktober ab 20 Uhr im Kabarett der Galgenstricke Altbekanntes und Neugeschaffenes mit der Akustikgitarre. Karten gibt es im Vorverkauf unter Telefon 07 11 / 35 44 44.