ESSLINGER STADTTEILE
Eine Sirnauerin der ersten Stunde

Sie ist 90 Jahre alt - genauso alt wie ihr Stadtteil. Marga Bauer ist eine Sirnauerin der ersten Stunde. Wegziehen kam für sie nie in Frage: "Hier bin ich zu Hause."

Von Simone Weiß
Quelle: Artikel vom 12.09.2022 © Eßlinger Zeitung

 Marga Bauer ist eine Sirnauer Einwohnerin der ersten Stunde. Foto: Roberto Bulgrin
Marga Bauer ist eine Sirnauer Einwohnerin der ersten Stunde. Foto: Roberto Bulgrin


An die Kinderfeste erinnert sich Marga Bauer (Zweite von rechts) sehr gerne. Foto: privat

ESSLINGEN - Sie sammelt Puppen, Fingerhüte – und Erinnerungen. Dabei kann sie aus dem Vollen schöpfen. Denn Marga Emma Bauer ist eine Sirnauerin der ersten Stunde und genauso alt wie der Esslinger Stadtteil. Sie wurde zwar in Sulzgries geboren, doch im zarten Alter von wenigen Tagen zog sie mit ihren Eltern in die 1932 errichtete Arbeitslosensiedlung um. Sie ist geblieben – 90 Jahre lang: "Sirnau ist meine Heimat."

Demonstrationen für Sirnau
Wie eine geübte Demonstrantin wirkt die rüstige Seniorin nicht. Doch als es um Sirnau ging, so erzählt Marga Bauer, hat sie sich gewehrt. In den 1970er-Jahren sollte der Esslinger Stadtteil platt gemacht und durch ein Industriegebiet ersetzt werden. Da ging sie mit anderen Ortsansässigen auf die Straße, demonstrierte gegen das Vorhaben und skandierte lautstark: "Sirnau bleibt Sirnau." Die Rufe wurden gehört und erhört. Die Stadt Esslingen legte ihre Pläne auf Eis. Sirnau blieb erhalten. Damals, sagt Marga Bauer, hätte es in der Stadtverwaltung geheißen: "In Sirnau muss man aufpassen - die wehren sich."

Doch die Anfänge waren friedlich gewesen. Als die goldenen Zeiten der Weimarer Republik zu Ende gingen, die Börse crashte, die Wirtschaft lahmte und Millionen Arbeitsplätze verloren gingen, wurden Grundstücke auf der heutigen Gemarkung von Sirnau an Menschen ohne Arbeit verteilt. Ihr 1902 geborener Vater, so erzählt Marga Bauer, fand als gelernter Gipser keine Stelle mehr und machte sich große Sorgen um das Wohlergehen seiner ständig wachsenden Familie. Zwischen 1923 und 1945 wurden acht Geschwister geboren. Marga Bauer kam als fünftes Kind 1932 zur Welt. Eine Großfamilie und der Vater ohne Anstellung – da klang das Angebot eines eigenen Häuschens in Sirnau wie ein Volltreffer. Viele Stunden gemeinnützige Arbeit mussten dafür im Vorfeld geleistet und ein Großteil der ersten Häuser selbst errichtet werden, erinnert sich Marga Bauer an Erzählungen ihres Vaters. Per Los wurde entschieden, wer welches Haus bekommen sollte. Ihre Familie siedelte sich im Drosselweg an – dort, wo sie heute noch lebt.

Waschmaschinen gab es nicht
Es war ein Dach über dem Kopf – aber Unmengen an Platz gab es nicht. Ein großes Zimmer, ein kleinerer Raum, eine Küche, eine Toilette, ein Stall – das war das ganze Raumrepertoire. Doch für den gelernten Gipser war eine Erweiterung kein Problem. Nach und nach hat der Vater das Haus vergrößert und ausgebaut. Der Stall wurde im Laufe der Jahre in eine Waschküche mit Badewanne umfunktioniert. Ein Garten und zwei Äcker waren nach den Erinnerungen von Marga Bauer Teil des Anwesens. Selbstversorgung durch Gemüse aus eigenem Anbau gehörten mit zur Philosophie der Siedlung. Doch für die Mutter von Marga Bauer bedeutete das viel Arbeit. Eine Waschmaschine gab es in den Anfangsjahren auch nicht. In einem großen Bottich im Hof wurde einmal pro Woche große Wäsche gemacht. Das Wasser wurde dazu in einem Kessel erhitzt und Marga Bauer musste darauf achten, dass keines der kleineren Geschwister der heißen Gefahr zu nahe kam.

Dennoch spricht sie von einer glücklichen Kindheit und Jugend. Wohlbehütet, sagt Marga Bauer, wuchs sie in ihrer Großfamilie auf. Umsorgt von liebevollen Eltern. Ein kinderloser Onkel hatte zu ihrer Mutter kurz nach ihrer Geburt gesagt: "Du hast doch schon vier Kinder. Um das Mädchen würde ich mich kümmern." Die Mutter meinte nur: "Du spinnst wohl. Das Mädchen gebe ich nicht her." Der Onkel hat es ihr nicht krumm genommen. "Köfferlesonkel" wurde er genannt – weil er immer mit einem Koffer voller Süßigkeiten zu Besuch kam.

Ihre Schulzeit war nicht immer süß. Tatzen – Schläge auf die flache Hand – haben die Lehrer verteilt, und der Schulweg nach Oberesslingen war bei der damaligen Infrastruktur noch sehr lang. Doch wenn der Neckar zugefroren war, konnte eine Abkürzung über das Eis genommen werden. Die kalte Witterung sah Marga Bauer aber nicht immer als Freund an. Ihre Konfirmation wurde im März 1947 an einem frostigen Tag gefeiert. Da musste sie einen Mantel über ihr Festtagsgewand ziehen, was ihr gar nicht gefiel. Aber sie hat es ertragen. Wie so vieles. In den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs musste sie mit ihrer Familie im Bunker am heutigen Spielplatz Schutz suchen. Mitgenommen wurde gar nichts. Und an den feuerroten Himmel in der Nacht, als Plochingen bombardiert wurde, erinnert sie sich heute noch.

Doch viel Zeit zur Verarbeitung von Kriegserlebnissen blieben nicht. Nach der Schule half sie der Mutter ein Jahr lang bei Kinderbetreuung und Haushalt, dann absolvierte sie ein Haushaltsjahr bei einer anderen Familie und schließlich ging sie in die Fabrik zum Arbeiten. Bis zu ihrer Rente ist sie dort geblieben.

Krank ist sie nicht oft gewesen. Eine Typhus-Erkrankung hat sie in jungen Jahren überstanden, und einmal schleppte sie sich trotz Beschwerden zur Arbeit. Die Betriebskrankenschwester schickte sie nach Hause und gab die strikte Anweisung zum Auskurieren. Langweilig wurde es ihr auch zu Hause nicht. Marga Bauer hat gestrickt, gehäkelt und gerne Rätsel gelöst. Jetzt, mit 90 Jahren, wird das Augenlicht zwar schlechter, aber sonst geht es der Seniorin gut. Nein, aus Sirnau habe sie gar nie weggewollt, sagt sie: "Hier bin ich zu Hause."

Aus der Geschichte von Sirnau

Anfänge
Nachdem Esslingen 1929 das Sirnauer Gebiet von Deizisau erworben hatte, beschloss der Gemeinderat 1931 auf dem Gelände den Bau einer "Randsiedlung für Esslinger Erwerbslose". Die ersten Häuser und Grundstücke wurden laut Homepage der Stadt Esslingen nach der Fertigstellung verlost. Der Stadtteil wurde bis 1937 und von 1949 bis 1952 erweitert. Im gleichen Jahr wurde die Bundesstraße 10 fertiggestellt, die direkt an Sirnau vorbei führt. Sirnau liegt im Südosten des Stadtgebietes und zählt rund 830 Einwohner.

Industriegebiet
Im Jahre 1970 gab es Pläne, Sirnau in ein reines Industriegebiet umzuwandeln und die Einwohner umzusiedeln. Die Neukonzeption des Stadtteils wurde jedoch verworfen. Heute befindet sich das Gewerbegebiet Sirnau am südöstlichsten Rand der Stadt, das Siedlungsgebiet wurde im Laufe der Jahre um neue Häuser erweitert.

 

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